Jonna Ponna!

(Jonna Nordenskjold, 2002, Neue Bühne Senftenberg, Deutsche Erstaufführung)

Mit: Torsten Borm, Astrid Kohlhoff und Sofie Maruschka Hüsler (Stimme)

Regie: Sascha Bunge

Bühnenbild und Kostüme: Moritz Müller

Dramaturgie: Ulrike Stöck

Fotos: Steffen Rasche



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Familienglück.

Mit der Strukturform und Kulturform der Gesellschaft ändert sich auch die Aufstellung der Familie. Sie zählt zu den Einmalerfindungen der Gesellschaft. Sie ist in ihrer Funktion der Bereitstellung eines Schutzraumes für die Aufzucht des Nachwuchses der Gesellschaft ebenso unverwüstlich wie unverzichtbar, auch wenn andere gesellschaftliche Einrichtungen, vor allem die Kirche, die Schule und die Politik, partiell oder total mit dieser Funktion zu konkurrieren versuchen können. Die Familie ist der Ort, an dem man geboren wird, aufwächst und stirbt, so sehr man dann auch Zeit seines Lebens damit zu tun hat, die Grenzen dieses Ortes kennen zu lernen, auszuloten und zu überschreiten. Eine ihrer wichtigsten Eigenschaften teilt die Familie mit der Organisation. Sie ist ebenso wie diese das Ergebnis einer segmentären Differenzierungsform der Gesellschaft, das heißt das Ergebnis der Bildung prinzipiell gleicher Teilsysteme. Das macht Familien, ebenso wie Organisationen, zu einem gesellschaftlichen Phänomen. Familien sind nicht etwa natürliche Einheiten, aus denen sich die Gesellschaft zusammensetzt, so wenig wie die Gesellschaft, wie heute zuweilen angenommen wird, ein Ergebnis des Umstandes ist, dass die Menschen dazu neigen, sich zu organisieren. Sondern umgekehrt entstehen Familien gleichsam populationsökologisch daraus, dass die Gesellschaft für die Kommunikation sowohl von Intimität, wenn sie Dauer will, als auch der Aufzucht von Kindern und der Versorgung von Alten, wenn man sich ihrer persönlich annehmen will, die Form der Familie imitationsfertig und variationsgeeignet zur Verfügung stellt. Man braucht sich nur umzuschauen und zu sehen, wie es andere machen, um es ähnlich machen zu können und nach Bedarf beziehungsweise Gunst der Verhältnisse ein bisschen anders. …

Die nächste Familie der nächsten Gesellschaft wird, wenn die Anzeichen nicht trügen, ihre Form ähnlich wie in der bürgerlichen Familie im Versuch einer Kombination von Geselligkeit und Intimität haben, die das Verlassen der Familie und den Wiedereintritt quasi in jedem beliebigen Moment ermöglichen. Das ähnelt der bürgerlichen Familie, weil auch diese eine soziale Emanzipationsform war, eine Form der Emanzipation sowohl von den formellen Interaktionsmustern der Adelsgesellschaft als auch von den Milieugebundenheiten der Bauern-, Arbeiter- und Handwerkerfamilien. Wer in einer bürgerlichen Familie aufwuchs, wusste sich auf die Anforderungen einer größeren Gesellschaft genauso gut vorbereitet wie auf das Aushalten und Pflegen von Intimität, so sehr dann auch die Unwahrscheinlichkeit der Konstruktion in einer Arbeitsteilung zwischen dem Mann, der sich draußen bewähren, und der Frau, die drinnen für Wärme sorgen musste, aufgefangen wurde. Genau so wichtig für diese Arbeitsteilung war jedoch, dass die Frau Verständnis für den Mann und der Mann Verständnis für die Frau hatte. Man hatte es mit komplementären Rollenerwartungen zu tun, in denen die Frau dem Mann beibringen konnte, was es hieß, Mann zu sein, und der Mann (meist ungeschickter) der Frau beibringen oder zumindest ermöglichen konnte, Frau zu sein. Die bürgerliche Gesellschaft ließ dem Mann wenig Zeit, sich dieser erzieherischen Aufgabe so anzunehmen, wie es dem müßigen Adligen der griechischen Antike noch vor Augen stand. Die gesamte Gesellschaft musste ihm mit einem Frauenbild zur Seite springen, dass der Frau kaum eine andere Chance ließ, als sich der Aufgaben anzunehmen, die ihr der Mann auf sich gestellt schon lange nicht mehr schmackhaft machen konnte. Die Fähigkeit zur Ironie, die der Frau dabei zugebilligt werden musste, da sie ja auch noch so tun können musste, als wüsste sie vom Mann, was sie nur von der Gesellschaft wissen konnte, wird über Jahrzehnte entweder biedermeierlich verdeckt oder für die Ausformulierung von Individualisierungschancen (der Frau) zwischen Treue und Untreue (zum Mann) genutzt, bis sie schließlich in eine Emanzipationsgeschichte mündet, die zum Leidwesen des Mannes den Ernst der Gesellschaft an die Stelle des Charmes der Ironie setzt.

Die nächste Familie ähnelt der bürgerlichen Familie jedoch nur unter dem Aspekt der Kombination von Geselligkeit und Intimität. Auf die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern lässt sie sich nicht mehr ein und kann sie sich auch nicht mehr einlassen, weil sie damit an Subtilität und Flexibilität des Hin- und Herwechselns zwischen den beiden Seiten der Medaille zu sehr verlieren würde. Deswegen lässt sie auch den "gender trouble" hinter sich, der wenig mehr leistet als die Subversion der alten Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern zugunsten der Verweigerung dieser Arbeitsteilung. Das kann im Zuge der Auflösung der bürgerlichen Familie niemanden mehr interessieren. Stattdessen wird es wichtig, auch die geschlechtliche Differenzierung zwischen Mann und Frau in den Dienst der Elaboration und Darstellung von Chancen und Ansprüchen der individuellen Persönlichkeit im Umgang mit dem dauernden switch zwischen Geselligkeit und Intimität zu stellen. Wie ist man auf gesellige Weise intim, und auf intime Weise gesellig? Die Familie der nächsten Gesellschaft antwortet auf diese Frage, die in der bürgerlichen Gesellschaft nur unter Freunden gestellt werden durfte, jetzt aber zum wieder auflösbaren Kitt jeden sozialen Projektes wird, indem sie die Chancen der sexuellen Reproduktion nicht nur zur Durchmischung des Genpools der Menschen nutzt, sondern auch zur Durchmischung ihrer Persönlichkeitsprofile. Kinder können sich anschauen, wie die Eltern je unterschiedlich mit demselben Problem zurande kommen. Mann und Frau können voneinander lernen, ohne die Möglichkeit zu verlieren, sowohl eine Attribution von Persönlichkeitsmerkmalen auf das Geschlecht vorzunehmen als auch aus dieser Attribution erotische Effekte zu gewinnen. …

Man wird also, so viel ist sicher, noch viel weniger wissen als bisher, worauf man sich einlässt, wenn man eine Familie kennen lernt. Das erhöht Reiz und Risiko des Einheiratens nicht unerheblich. Und man wird noch weniger wissen als bisher, wann man es bereits mit einer Familie und wann noch mit einer Clique, einer Wohngemeinschaft, einem Team oder einer Projektgruppe zu tun hat. Man wird jedoch genau deswegen ganz genau wissen, dass man es mit einer Familie zu tun hat, wenn man auf Leute stößt, die Verantwortung dafür übernehmen, wie der andere geboren wird, lebt und stirbt.

Dirk Baecker, Studien zur nächsten Gesellschaft