Die Schneekönigin

(Jewgeni Schwarz nach Motiven von Hans Christian Andersen, 2006, Theater an der Parkaue)

Mit: Birgit Berthold, Mathias Biele / Johannes Langer, Eckhard Doblies, Stefan Faupel, Wesselin Georgiew / Dieter Korthals / Florian Simon / Hannes Sell, Elisabeth Heckel / Franziska Krol, Katrin Heinrich / Franziska Ritter, Niels Heuser, Corinna Mühle / Grit Riemer / Danielle Schneider, Peter Priegann, Elvira Schuster, Hans-Henning Stober, Manfred Struck

Regie: Sascha Bunge

Bühnenbild und Kostüme: Magdalena Musial

Dramaturgie: Anne Paffenholz

Fotos: Christian Brachwitz

Presse: tip, Deutschlandradio Kultur

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Ein Kuß auf die Stirn verändert alles: VERTRAUTER SCHRECKEN – Märchen / Alptraum – In das Gewohnte bricht das Verdrängte ein

Die Wurzeln, aus denen man kommt, auf die man sich bezieht, sind häufig ein einziger Schlamassel. Damit man sich damit zurechtfindet, ergeht allzu oft der Ruf nach der so genannten Ursprünglichkeit. Daß es diese Ursprünglichkeit und der damit verbundene Traditionalismus sind, die uns festkrallen und damit das Leben schwer machen, reflektieren wir in der Regel immer zu spät. Der Ausbruch des Jungen Kai, der gemeinsam mit seiner Ziehschwester und ihrer Großmutter eine kleine Dachgeschoßwohnung in der Ystader Straße im Prenzlauer Berg bewohnt, ist nicht nur eine Verhinderung bzw. Verspätung der Liebesgeschichte mit Gerda, sondern auch die Bewusstwerdung der häuslichen Enge, die Formulierung der immerwährenden Beschränktheit, die die Bescheidenheit eben mit sich bringt.

Es entsteht eine Korrespondenz zwischen dem, was wir heimisch nennen und dem was heimlich meint, dem Verdeckten, dem Unheimlichen. Das Vertraute geht über in das Beunruhigende, das Schützende ist zugleich bedrohlich, die Sehnsucht nach den Wurzeln offenbart sich als unheilvoll. Dafür steht die personifizierte (luziferische) Lichtgestalt der Schneekönigin, die im Grunde die Abseitigkeit des normalen Berliner Mietshauslebens darstellt, eine verdeckte Sehnsucht: Britney Spears im Satinkleid. Sie tritt als Katalysator auf, wird unbedingt benötigt um einen Prozess der Bewusstwerdung über die Verhältnisse zu provozieren. Das Idyll verwandelt sich in einen Alptraum – dieser Alptraum findet im Wohn- bzw. Schlafzimmer statt – somit ist der Raum eine Übersetzung dafür, dass die Reise im Kopf stattfindet, deshalb ist sie nicht weniger intensiv.

Es ist eine der Stärken der kapitalistischen Moderne, sämtliche Wurzeln auszureißen, traditionelle Gemeinschaften zu zerstören, das Gewohnheitsmäßige durch den Zwang zur Wiederholung, das Spezielle durch den Zwang zur Reproduktion abzulösen. Verschwinden die Pfade des Heimlichen? Dadurch ergeben sich wieder neue Möglichkeiten des subversiven Behauptens von Werten, von Gemeinschaften, die Vereinzelung des Kai wird mit Hilfe einer zunehmenden Kollektivierung aufgehoben und am Ende steht eine Bande Gleichgesinnter im Zimmer der Großmutter als Oberpartisanin, die das Prinzip des Rationellen, Vernünftigen vertreibt. Die Frage ist, wie lange man in dieser Schutzgemeinschaft des quasi Dörflichen aushalten kann, wann also der nächste Ausbruchsversuch stattfindet, aber das soll nicht unser Thema sein.

Emigration ähnelt einem vorzeitigen Altern: Verpuppung, Autismus, individueller Verfall, ein unheilbares Torkeln. Und das ist vielleicht das Moderne an der SCHNEEKÖNIGIN, dass sie unser Torkeln angesichts einer sich stets diversifizierenden Gesellschaft beschreibt, unseren Zwang zur Flexibilisierung – wer ist da sicher und kann Weitblick behaupten – eine Lernerfahrung, die Kinder mit den verunsicherten Elterngenerationen immer wieder machen müssen.

Was das Stück verteidigt, ist die Idee von Integration gegen die Praxis von Separierung: Integration als Heimatgefühl. Die moralische und gefühlsmäßige Armut, die dem Exil wie der gesellschaftlichen Entwurzelung innewohnt, ist vielleicht dem Imaginären einer Vertrautheit voller unheimlicher Versprechen vorzuziehen. Und doch ist es sinnlos und auf lange Sicht auch gefährlich, die Forderungen nach einem angestammten Ort zu verwerfen. Wir bleiben darauf angewiesen, in Dingen zu leben, die uns Geschichten erzählen. Wir sind auf das sinnliche Wohlbehagen unserer lebendigen Umwelt angewiesen. Die Erinnerung ist möglicherweise das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann. Dennoch: Ein einziger Kuß auf die Stirn verändert möglicherweise alles.

Sascha Bunge